Wohlbefinden und Entwicklung – mit Hilfsmitteln im Gleichgewicht

Clare Canale – Gastbloggerin – Ergotherapeutin und Inhaberin von Red Robin Therapy
Clare Canale – Gastbloggerin – Ergotherapeutin und Inhaberin von Red Robin Therapy
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Wenn Ihr Kind beeinträchtigt ist, machen Sie sich natürlich Gedanken um sein Wohlbefinden. Sie möchten Ihr Kind vor Unannehmlichkeiten schüzten, und ihm gleichzeitig alle Möglichkeiten zur Entwicklung bieten.

ILesen Sie in diesem Artikel: 

  • Das Komfortkonzept 
  • Gilt das Komfortkonzept auch für Kinder mit Beeinträchtigungen? 
  • Körperhaltung und Aktivität für die Entwicklung  
    • Haltung 
    • Aktivität 
    • Kombination aus Haltung und Aktivität  
  • Das Gleichgewicht mit Hilfsmitteln finden  
  • Eltern, Sie sind die ExpertInnen 

Das Komfortkonzept 

Komfort oder Wohlbefinden als Konzept ist komplex, weil es sowohl subjektiv als auch nuanciert ist. Ihre Wahrnehmung von Komfort unterscheidet sich wahrscheinlich etwas von meiner und kann sich auch ändern, je nachdem, wie gut wir uns fühlen, wie müde, warm oder hungrig wir sind oder ob wir eine Toilettenpause brauchen. Es gibt keine einheitliche Definition von „perfektem Komfort oder Wohlbefinden“. Aber es gibt einige gemeinsame Themen.  

Aus rein physiologischer Sicht wird Komfort meist an der Schmerzfreiheit, dem Gefühl von Sicherheit oder an der genau richtigen Balance zwischen Sättigung, Wärme und dem Verzicht gemessen. Aus sensorischer Sicht bezieht sich Wohlbefinden auf erträgliche Hintergrundgeräusche und Helligkeit, keine aufdringlichen Gerüche und darauf, dass wir uns unserer Kleidung, unserer Schuhe und der Fußbodens, auf dem wir stehen, nicht bewusst sind. Dann gibt es emotionales Wohlbefinden – das Verlassen unserer „Komfortzone“ gilt als vorteilhaft für unser persönliches Wachstum und Lernen, während Wohlbefinden bedeutet, negative Emotionen zu reduzieren und Stress zu lindern. 

Auch wenn wir uns anfangs wohl fühlen, wird die Zeit, die wir in einer Position verbringen oder einer Aktivität nachgehen, unser Wohlbefinden irgendwann verringern, da unser Gehirn das Bedürfnis registriert, die Position zu ändern, zu essen, zu trinken, auf die Toilette zu gehen, die Lautstärke zu erhöhen/verringern oder sich umzuziehen. 

Komfort ist nicht immer notwendig. Möglicherweise sind wir bereit, für kurze Zeit ein wenig Unwohlsein zu tolerieren, wenn der Zweck als wichtig erachtet wird – etwa ein Besuch beim Zahnarzt – oder wenn das Ergebnis als lohnenswert empfunden wird – etwa ein anstrengendes Training. Insgesamt ist es jedoch ein menschliches Grundbedürfnis, Wohlbefinden aufrechtzuerhalten – ganz gleich, wie wir es ganz individuell erleben. Es bewirkt häufige Anpassungen (von denen wir uns größtenteils nicht bewusst sind, bis wir uns unwohl fühlen), damit wir unser tägliches Leben so effektiv wie möglich fortsetzen können.  

Gilt das Komfortkonzept auch für Kinder mit Beeinträchtigungen?  

Ja, im Großen und Ganzen. Allerdings fällt es einem Kind mit einer Beeinträchtigung möglicherweise schwer, seinen Körper in einer stabilen Position gegen die Schwerkraft zu halten, sich frei zu bewegen, seine Bedürfnisse zu erkennen und zu kommunizieren oder auf überwältigende Sinnesreize reguliert zu reagieren. Für diese Kinder ist es schwieriger, Anpassungen und Veränderungen selbst vorzunehmen und diese im Hintergrund ablaufen zu lassen. Die Aufrechterhaltung des Wohlbefindens hängt von Ihren wachsamen Augen ab. Sie sorgen für diegenau richtigeHaltungsunterstützung für die gewählte Aktivität über die erforderliche Zeitspanne. Aufgrund der Komplexität von Wohlbefinden gibt es keineEinheitslösung“, die für alle passt. Folgende Punkte sind ausschlaggebend:

  • Der Entwicklungsstand der Körperhaltung Ihres Kindes. 
  • Die Beeinträchtigung der Körperhaltung durch Tonus, Reflexe oder Anfälle. 
  • Die Übereinstimmung von benötigter Unterstützung und entsprechendem Hilfsmittel. 
  • Das Ziel, welches mit dem Hilfsmittel erreicht werden soll.
 
Körperhaltung und Aktivität für die Entwicklung  

Körperhaltung kann definiert werden als “Art und Weise, besonders beim Stehen, Gehen oder Sitzen, den Körper, besonders das Rückgrat, zu halten”. Aktivität kann definiert werden als “aktives Verhalten, Betätigungsdrang, Energie” (DUDEN). 

Obwohl Körperhaltung und Aktivität so eng miteinander verwoben sind  - die Körperhaltung Ihres Kindes wird durch die auszuführenden Aktivitäten bestimmt, und die Qualität der von ihm ausgeführten Aktivitäten wird durch seine Körperhaltung bestimmt -, werden wir hier versuchen, beide Begriffe zu trennen. 

Haltung 

Die Körperhaltung (also die Art und Weise, wie Ihr Kind seinen Körper hält) hängt von seinem Haltungsreifegrad ab. Für Ihr Kind kann es länger dauern oder ohne zusätzliche Unterstützung nicht möglich sein, verschiedene Körperhaltungen selbstständig einzunehmen. Schwankungen im Muskeltonus oder starke Reflexe können zu Veränderungen der Körperform, Bewegungsverlust, festen Deformitäten und Asymmetrien führen – all dies muss klar sein, um komfortable Hilfsmittel bereitzustellen, die im Liegen, Sitzen, Stehen und in der Bewegung die benötigte Unterstützung von außen geben. 

Ihr/e Ergo- oder PhysiotherapeutIn kann durch eine detaillierte Haltungsbeurteilung die Bedürfnisse Ihres Kindes nach Unterstützung ermitteln. Dazu müssen verschiedene Messungen der Länge und des Bewegungsumfangs in verschiedenen Positionen durchgeführt und die individuelle Körperform Ihres Kindes an ein geeignetes Hilfsmittel angepasst werden, je nach Ziel oder Art der Aktivität. Dies sollte idealerweise alle sechs Monate, mindestens jedoch jährlich wiederholt werden, um etwaige Veränderungen zu erfassen. 

Wenn Ihr Kind an Cerebralparese leidet, können TherapeutInnen auch das GMFCS (Gross Motor Function Classification System) (Palisano et al., 2007) verwenden, um den Grad seiner körperlichen Fähigkeiten zu ermitteln. Dies führt uns dann wiederum zu den am besten geeigneten Hilfsmitteln. Im Allgemeinen benötigen Kinder der GMFCS-Stufen IV und V die komplexeste Ausrüstung. 

Erfahrungen im Haltungsmanagement legen nahe, dass Kinder ab einem ihrer Entwicklung angemessenen Alter Zugang zu unterstützenden Hilfsmitteln haben sollten. Selbst wenn sie also Unterstützung benötigen, sollten sie ab einem Alter von etwa sechs Monaten sitzen und ab einem Alter von etwa 12 Monaten stehen. Untersuchungen haben auch gezeigt, dass sich frühe motorische Mobilität (unter fünf Jahren) positiv auf die Entwicklung auswirkt (Bray et al., 2020). 

Aktivität 

TherapeutInnen (einschließlich mir) neigen dazu, über Aktivitäten im Hinblick auf die Funktion zu sprechen und konzentrieren sich auf Bewegung und Selbstständigkeit (Handfunktion, Ankleiden, Nahrungsaufnahme), aber das ist nur ein Teil der Entwicklung eines Kindes. 

Canchilds „F-Wörter für die kindliche Entwicklung“ (https://www.canchild.ca/en/research-in-practice/f-words-in-childhood-disability) erinnern uns an sechs Schlüsselbereiche der kindlichen Entwicklung: 

  • Funktion – was Ihr Kind tut 
  • Familie – das wesentliche Umfeld Ihres Kindes 
  • Fitness – das körperliche und geistige Wohlbefinden Ihres Kindes 
  • Fun/Spaß – Aktivitäten, die Ihrem Kind Spaß machen 
  • Freunde – Freundschaften, die Ihr Kind zu anderen aufbaut 
  • Future/Zukunft – worum es im Leben Ihres Kindes geht 

Oft wird der Funktion mehr Aufmerksamkeit geschenkt, jedoch sind alle sechs Bereiche von gleicher Bedeutung und sollten berücksichtigt werden, wenn es darum geht, Wohlbefinden, Körperhaltung und Aktivität mithilfe von Hilfsmitteln in Einklang zu bringen 

Kombination aus Haltung und Aktivität    

Der Mensch ist nicht dafür geschaffen, im Stehen zu schlafen. Während wir vielleicht in einem Stuhl einschlafen können, ist es unwahrscheinlich, dass wir einen guten Schlaf erleben. Unser Körper ist instabil, weil wir nicht an den richtigen Stellen die richtige Unterstützung haben. Mit der Zeit sinkt unser Kopf und wir werden wach. Daher ist die bequemste Schlafhaltung zurückgelehnt oder liegend. Umgekehrt ist das Essen im Liegen sehr schwierig – das Schlucken ist schwierig und es besteht die Gefahr, dass wir etwas verschütten oder sogar ersticken. Wir können im Stehen essen, wenn wir Messer und Gabel nicht benötigen, aber das erfordert mehr Zeit und Mühe, da wir nicht sehr stabil sind. Die effizienteste und bequemste Haltung zum Essen ist daher das aufrechte Sitzen auf einem Stuhl mit Rückenlehne und den Füßen auf dem Boden. Dadurch können wir unsere Hände zum Halten des Bestecks nutzen, halten Kopf und Hals für sicheres Schlucken in einer Linie und stellen sicher, dass unser Körper für die Dauer der Aktivität ausreichend gestützt wird. 

Je nach auszuführender Aktivität ist es immer ein Pendeln zwischen Stabilität und Unterstützung. Generell gilt: Je schwieriger uns eine Aktivität fällt, desto stabiler muss unsere Körperhaltung sein.   

Das Gleichgewicht mit Hilfsmitteln finden 

Mit unterstützender Ausstattung – also den Hilfsmitteln, die Ihr Kind täglich zur Unterstützung nutzt – kann Ihr Kind Körperhaltungen erreichen oder beibehalten, die ihm sonst zu schwer fallen würden.  

Bei Kindern mit einer Behinderung bedeutet die Unfähigkeit, die eigene Körperhaltung anzupassen, dass der Stabilität mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Hier ist es hilfreich, sich darüber im Klaren zu sein, welche Körperhaltung für welche Aktivität und für welche Dauer (hier ist die Haltungsbeurteilung wichtig) für Ihr Kind wichtig ist. Wenn Ihr Kind Hilfsmittel zum aufrechten Sitzen benötigt, muss sein Rollstuhl oder Sitz über längere Zeiträume ausreichend Stabilität und Halt bieten. Die Körperhaltung kann währenddessen verändert werden. Durch Neigung der Rückenlehne beispielsweise entsteht eine entspanntere Körperhaltung. Oder aufrechtes Sitzen ohne Brustgurt mit Therapietisch bedeutet größere Reichweite für Arme und Hände. Eine Höhenverstellung ist hilfreich für die Familie sowie für Spaß und die Interaktion mit Freunden.  

Wenn Sie eine Outdoor-Familie sind, die gerne wandert oder Rad fährt, wird ein herkömmlicher Rollstuhl oder ein Spezialsitz diesen Bedarf wahrscheinlich nicht decken. Offroad-Kinderwagen oder Fahrradanhänger sind hierfür eine großartige Lösung, bieten jedoch tendenziell weniger Haltungsunterstützung, was aber für die Dauer Ihrer Familienaktivität völlig in Ordnung ist.  

Die körperlichen, sensorischen und emotionalen Vorteile von frischer Luft, Natur, Vergnügen und Zeit mit der Familie überwiegen bei weitem den Mangel an „richtiger“ Haltungsunterstützung. 

Stabilität (und damit Komfort) in der Hilfsmitteltechnik wird durch die Kombination von Auflageflächen mit Gurten und zusätzlichen Polstern erreicht, abgestimmt auf die Körperform Ihres Kindes. Wenn Sie feststellen, dass es Ihrem Kind sehr schwer fällt, eine Haltung über einen angemessenen Zeitraum beizubehalten – und es sich im vertrauten Hilfsmittel befindet, trotzdem aber keine normalerweise mühevolle Aktivität ausführt - oder zusätzliche Stützen oder Gurte keinen Unterschied machen, so ist dies ein klarer Hinweis darauf, dass das Hilfsmittel nicht mehr geeignet ist oder individueller angepasst werden muss.  

Denken Sie auch daran, dass Hilfsmittel möglicherweise therapeutische oder entwicklungsfördernde Möglichkeiten bieten, diese jedoch nicht über einen längeren Zeitraum auf Kosten des Komforts genutzt werden sollten. Wie bereits erwähnt, kann der Brustgurt an einem Sitz oder Rollstuhl entfernt werden, um mehr Arm- und Handbewegungen zu ermöglichen – das ist für eine kurze Aktivität, wie zum Beispiel das Umblättern in einem Buch, das Essen oder zum Puzzeln, völlig in Ordnung. Die Stabilität des Rumpfes Ihres Kindes nimmt jedoch ab und es muss insgesamt mehr selbst “arbeiten”.  Daher sollte der Gurt danach wieder angebracht werden. Wenn Sie mit abgenommenem Gurt spazieren gehen, „um die Rumpfstabilität zu trainieren“, wird das Hilfsmittel nicht in der vorgesehenen Weise genutzt (Aktivitäten am Boden oder im Stehen sind  dafür besser geeignet) und führt zu Unbehagen für Ihr Kind. 

Eltern, Sie sind die ExpertInnen 

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Eltern von Kindern mit Behinderungen ExpertInnen für ihr Kind sind. Möglicherweise kennen Sie nicht alle Fachbegriffe (obwohl die meisten von Ihnen sie kennen), aber selbst wenn nicht, wissen Sie instinktiv, was für Ihr Kind am besten ist. Sie kennen seine Vorlieben und Abneigungen und können die Anzeichen von Unbehagen viel früher erkennen als die meisten anderen BetreuerInnen.    

Ich habe herausgefunden, dass es häufig die von TherapeutInnen empfohlenen oder eingesetzten Hilfsmittel sind, die die größte Sorge um das Wohlbefinden Ihres Kindes hervorrufen. Scheuen Sie sich nicht, Bewertungen und gegebenenfalls auch eine andere Meinung einzuholen. Unterstützende Hilfsmittel können Ihnen durchaus dabei helfen, das Gleichgewicht zwischen dem Wohlbefinden und der Entwicklung Ihres Kindes zu finden - und das ist eine echte Teamleistung. 

 

Clare Canale – Gastbloggerin – Ergotherapeutin und Inhaberin von Red Robin Therapy
Clare Canale – Gastbloggerin – Ergotherapeutin und Inhaberin von Red Robin Therapy

Clare verfügt über 27 Jahre Erfahrung als pädiatrische Ergotherapeutin. Nach ihrem ausgezeichneten Ergotherapie-Abschluss an der Universität Ulster im Jahr 1994 arbeitete Clare mit Kindern und Jugendlichen in Förderschulen und im häuslichen Bereich, im Privat- und Wohltätigkeitssektor. Sie besitzt außerdem den Master-Abschluss in Klinischer Forschung.

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