Warum entstehen Hüftprobleme und wie kann man vorbeugen?

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Kleines Baby, das eine osteopathische Behandlung ihres Beins erhält, um Hüftdysplasie durch einen pädiatrischen Physiotherapeuten zu verhindern.

Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit körperlichen Behinderungen wie Zerebralparese haben ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Hüftproblemen. Im Laufe der Zeit kann die Hüfte dabei gänzlich ausgerenkt werden, fachsprachlich als Hüftluxation bezeichnet. Doch warum entstehen diese Hüftprobleme und wie kann man vorbeugen? 

Wir freuen uns darüber, dass die Physiotherapeutinnen Malin Larsson und Hanna Bengtson unseren Blog mit Gastbeiträgen zum Thema „Hüfte“ unterstützen. Die dreiteilige Serie beschäftigt sich mit folgenden Fragen: 

Malin Larsson und Hanna Bengtson betreiben die Webseite weyoume.se, die Eltern von Kindern mit Behinderung mit Fachwissen versorgt. 

Eine ausgerenkte Hüfte?   

Untersuchungen der Hüftgelenke sind für viele Menschen, die durch körperliche Behinderungen im Stehen und Gehen eingeschränkt sind, nichts Ungewohntes. Jedes Jahr finden eine Röntgenuntersuchung sowie Tests der Beweglichkeit und der Muskeln statt. Begleitet werden diese Routineuntersuchungen von der Unruhe darüber, ob sich der eigene Zustand mit zunehmendem Alter weiter verschlechtert. Aber was ist nun eigentlich das Problem mit den Hüften? Warum bekommen so viele Menschen mit körperlichen Behinderungen Hüftbeschwerden? Was geschieht im Körper und was lässt sich dagegen unternehmen? Kann man vielleicht sogar vorbeugen und den ganzen Körper ein wenig in Schwung bringen? Wir wollen in unserer dreiteiligen Serie zum Thema Hüfte den Dingen Schritt für Schritt auf den Grund gehen! 

In diesem ersten Teil beschäftigen wir uns intensiv damit, was ein Hüftgelenk eigentlich ist und welche Funktion seine einzelnen Teile übernehmen.  

Was ist ein Hüftgelenk, und warum haben so viele Menschen mit einer Behinderung Hüftprobleme?    

Unsere Körper entwickeln sich abhängig von der Welt, in der wir leben, und von den Aufgaben, die wir zu lösen haben. Ein Kind fordert seinen Körper direkt nach der Geburt mit kleinen Bewegungen heraus; dies sind zum Beispiel kleine Tritte und ein nachdrückliches Wegschieben mit den Beinen von allem, was sich in der Nähe befindet. Im Laufe der Entwicklung werden die Hüftgelenke zunehmend stärker beansprucht; die Bewegungsfreiheit wird größer, und es wird nicht länger nur weggeschoben, sondern es gibt rekelnde, parierende Bewegungen im Sitzen, beim Krabbeln und beim spielerischen Hinknien. Schließlich kommt es auch zu einer Belastung durch die Aufrechthaltung des Körpers gegen die Schwerkraft. All diese Bewegungen führen zu unterschiedlichsten Belastungen, die die Hüftgelenke fordern und formen, bis sich daraus die beeindruckenden Kugelgelenke ergeben, die sie in der Tat sind. Dieses Kugelgelenk wird vor allem durch die Sehnen und durch die Muskulatur stabilisiert, wodurch freie Bewegungen in allen Richtungen möglich sind. Das Kugelgelenk lässt nicht nur Bewegungen in großer Varianz zu, sondern sorgt zudem für Stabilität, die Laufen ermöglicht und uns die Kraft zum Rennen, Springen und Spielen gibt.  

Doch was geschieht, wenn diese kleinen Bewegungen am Anfang des Lebens ausbleiben, weil die Muskeln eine zu hohe oder zu niedrige Spannung aufweisen? Was passiert, wenn die verschiedenen Bewegungen und Haltungen eingeschränkt werden, weil der Körper schneller wächst und schwerer wird als die Motorik sich anpassen kann? Und wie sieht es aus, wenn Hüftgelenke und Becken nicht die Belastung erfahren, die Körper und Hirn dazu anregt, Bewegungen, Stabilität und Kraft zu entwickeln?  

Die Antwort ist einfach: Kein Input – beschränkter Output. Wenn Körper und Hirn keine ausreichenden Informationen zu verarbeiten haben, haben sie Schwierigkeiten, den Bewegungsapparat funktional aufzubauen. Dies können viele Kinder mit motorischen Problemen bestätigen. 

Wie sieht es im Körper aus?  

Zuerst sollten wir uns einmal genauer mit dem Hüftgelenk beschäftigen. Wie sieht dieses aus, und was ist wichtig, wenn wir von ausgerenkten Hüftgelenken sprechen? Gehen wir Schritt für Schritt vor:  

DE_Hip joint

Das Becken 

Das Becken ist ein schalenförmiger Knochenkomplex, der am Ende der Wirbelsäule beginnt. Hier werden der Rumpf, also der Oberkörper, und die Beine miteinander verbunden. Jeweils zu beiden Seiten des Endes der Wirbelsäule befinden sich die blattförmigen Knochen, die hinten am Kreuzbein und vorn am Schambein miteinander verbunden sind. Das Becken bildet das Dach des Hüftgelenkes, weshalb seine Form wichtig für die Bewegungen des Hüftgelenkes ist. Hüftgelenkpfanne: Die Hüftgelenkpfanne ist der Teil des Hüftgelenkes, der zum Becken gehört und wie eine Aussparung geformt ist, die den Oberschenkelknochen aufnimmt. Bei der Geburt eines Kindes ist die Hüftgelenkpfanne nahezu flach, und sie wird durch Bewegungen und Belastung immer stärker ausgeschält, so als würde sich der Oberschenkelknochen mittels seiner Aktivität eine Höhle formen.  

Oberschenkelknochenkopf

Der Oberschenkelknochenkopf ist der Teil des Hüftgelenkes, der durch den äußersten Teil des Oberschenkelknochens gebildet wird. Er ist kugelförmig. Der Oberschenkelknochenkopf ist der gerundete, stößelförmige Teil, der in der Gelenkpfanne liegen soll und darin reibungslos seine Position an die vom Körper gewünschte Haltung anpasst. Der Oberschenkelknochenkopf ist mithilfe großer, zäher Sehnen und kräftiger Muskeln an der Gelenkpfanne befestigt. So wie auch die Gelenkpfanne durch Bewegungen und Belastung geformt worden ist, werden auch die Haltbarkeit des Gelenkkopfes sowie seine Größe durch frühe Herausforderungen beeinflusst.  

Winkel des Oberschenkelknochenhalses 

Der Oberschenkelknochenhals ist der querverlaufende Knochenteil, der den geraden Oberschenkelknochen und den gerundeten Gelenkkopf verbindet. Der Winkel des Oberschenkelknochenhalses ist entscheidend, wie der Gelenkkopf in der Gelenkpfanne liegt und wie die funktionale Verbindung mit Knien und Füßen verläuft. Wie groß der Winkel zwischen Oberschenkelknochen und dem Oberschenkelknochenhals („Neck-Shaft Angle“) ist, wirkt sich darauf aus, wie stark der Gelenkkopf in die Gelenkpfanne gewinkelt wird: Die Position des Gelenkkopfes zwischen dem vorderen und dem hinteren Rand der Gelenkpfanne wird hingegen vom Antetorsionswinkel bestimmt. Ein schweres Wort, doch es beschreibt, ob der Winkel zwischen Gelenkkopf und Oberschenkelknochen die Knie gerade unter der Hüfte stehen lässt oder sie nach innen, also zum jeweils anderen Bein hin, eindreht.

Muskulatur 

Da sich das Hüftgelenk in vielen verschiedenen Richtungen frei bewegen können muss, wird es nur zu einem sehr kleinen Teil durch Teile des Skelettes stabilisiert. Stattdessen sind Oberschenkelknochen und Becken durch mehrere, kräftige Bänder miteinander verbunden, die das richtige Verhältnis von Beweglichkeit und Stabilität erzeugen. Außerdem wirkt sich die Arbeit der Muskeln auf das Hüftgelenk aus. So hat eine Unfähigkeit, bestimmte Muskeln zu aktivieren, bei gleichzeitiger Verkrampfung der Muskeln, die die entgegengesetzte Arbeit verrichten (die sogenannten Antagonisten), große Auswirkungen auf die Funktion der Gelenke und auf das innere Umfeld.  

Abläufe im Körper  

Jetzt, wo wir das ganze System ein wenig besser verstehen, kehren wir zurück zu der Frage: Was geschieht, wenn Hüftgelenke und Becken nicht die Belastung erfahren, die Körper und Hirn dazu anregt, Bewegungen, Stabilität und Kraft zu entwickeln? Selbstverständlich kann es sich auf alle Teile dieses so durchdachten Hüftgelenkes auswirken.  

Das Becken muss auf die Belastung durch die abwechselnde Bewegung der Beine reagieren und entgegen der Schwerkraft das Gewicht des Oberkörpers tragen. Diese Belastung führt zu einem Zug in Gelenken, Sehnen und Muskulatur, die alle durch ihre Aktivität die Stabilität und die Breite des Beckens an die jeweiligen Anforderungen anpassen. Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, dass Personen, die sich nicht selbstständig bewegen können, eine geringe Beckenbreite haben.  

Die Gelenkpfanne muss eine abgegrenzte Oberfläche bilden, in der sich der Gelenkkopf geführt bewegt. Diese Fläche wird, wie schon erwähnt, durch Belastung geformt. Zwar hat das Tragen des Körpergewichtes entgegen den Regeln der Schwerkraft – zum Beispiel beim Knien, Stehen und Gehen – einen starken Einfluss auf die Formung der Gelenkpfanne, doch auch schon die kleinen rekelnden Bewegungen, die Säuglinge in der Bauchlage ausüben, setzen diese Entwicklung in Gang. Eine der häufigsten Ursachen für eine Hüftverrenkung ist bei Menschen mit Behinderung eine zu flache Gelenkpfanne, die eben nicht eine abgegrenzte und führende Fläche darstellt, wie sie der Gelenkkopf erfordert.  

Auch Gelenkkopf und Oberschenkelknochenhals sind abhängig von Bewegung und Gewichtsbelastung gegen die Schwerkraft. Dadurch entwickeln sie sich bis zu dem Punkt, an dem sich das Gelenk voll funktionsfähig bewegen kann.  

Eine mangelnde Belastung wirkt sich auf das Knochenwachstum aus, was zu einer Verformung des Gelenkkopfes führen kann. Vor allem aber sorgt es dafür, dass der Oberschenkelknochenhals in einem solchen Winkel wächst, bei dem der Gelenkkopf am Pfannendach schabt oder sich in einem solchen Winkel nach vorn dreht, so dass es leichter zu einer Luxation (Verrenkung) kommt.  

Die Muskulatur um das Hüftgelenk übernimmt zum einen eine stabilisierende Funktion und ermöglicht zum anderen Spiel und Bewegung. Die Muskeln von Kindern wachsen und dehnen sich nicht aus, wenn sie genutzt werden, aber sie ermöglichen eine bessere Kontrolle über die Bewegungen, da mehr Nervenenden mit motorischen Einheiten in den Muskeln verbunden sind. Je mehr Verbindungen es gibt, desto mehr Kraft lässt sich entwickeln. Ein Muskel wird durch anspruchsvolle Aufgaben gefördert. Bleiben Herausforderungen wie Krabbeln, Klettern, Aufrichten und Springen aus, fehlt der Rück- und Außenseite der Hüfte die notwendige Belastung. Stattdessen bleibt die Anspannung an der Vorder- und Innenseite der Hüfte im Verhältnis zu stark. Dadurch wird der Oberschenkelknochen in eine Richtung verzogen, so dass die Gefahr einer Luxation steigt.    

Was ist jetzt zu tun?   

Man kann sich also vorstellen, dass Menschen mit einer motorischen Behinderung eindeutig mit großen Herausforderungen der Hüfte zu kämpfen haben! Zum Glück sind sie damit nicht allein, sondern erhalten umfangreiche Unterstützung: Orthopäd:innen, Orthopädietechniker:innen, Physiotherapeut:innen, Ergotherapeut:innen, persönliche Assistent:innen und Angehörige tun alles für die bestmögliche Vorbeugung von Hüftproblemen. Wie tun sie dies und warum? Welche der oben genannten Bestandteile der Hüfte können mit diesen Maßnahmen positiv beeinflusst werden? Und welche Möglichkeiten gibt es, wenn die Hüfte bereits verrenkt ist? All dies vertiefen wir im zweiten Blogbeitrag unserer Serie zum Thema Hüfte.  

24-Stunden-Lagerungsmangement

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Malin Larsson ist Physiotherapeutin und kommt aus der Sportmedizin. Im Jahr 2011 brachte sie eine Tochter mit Behinderung auf die Welt. Daraufhin begann sie, sich der Arbeit mit Kleinkindern und Erwachsenen mit Behinderung zuzuwenden; und diesem Arbeitsbereich ist sie seitdem treu geblieben. Dank eines starken kleinen Mädchens, das sie vor große Herausforderungen stellte, hat sie begonnen, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Durch sie und durch ihre zwei Geschwister hat Malin damit angefangen, sich intensiv mit der motorischen Entwicklung zu beschäftigen. Ihr ist bewusst geworden, wie viele Menschen es braucht, für ein Kind mit Behinderung ein funktionierendes Gesamtumfeld zu schaffen. Zusätzlich muss allen Beteiligten das erforderliche Wissen in jeweils passender Form vermittelt werden, damit sie ihren Anteil leisten können. Hanna Bengtson engagiert sich sehr stark für das Recht von Kindern auf Entwicklung und dafür, dass alle Menschen die Chance erhalten, ihr ganzes Potenzial auszuschöpfen. Sie arbeitet seit rund zehn Jahren in der Habilitation von Kindern und Erwachsenen und hat in diesem Rahmen Erfahrungen mit vielen unterschiedlichen Diagnosen sowohl zu angeborenen wie zu entwickelten Behinderungen gemacht. Ausgehend von der funktionellen Motorik möchte sie sich engagieren und dem Netzwerk durch das Verständnis der Bedürfnisse und Anforderungen des Kindes zu Erfolg verhelfen.

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